Münchner Filmzentrum
Filmkritiken von FRIEDA GRAFE zu Filmen aus der Patalas-Filmreihe / 3

 

Luis Buñuel: Subida al cielo (MX 1952)                            FR, 26.7. um 18:30

Volks- ja, aber nicht -tümlich

Ein Wunder! Dieser Film ist ein Wunder. Aber niemand wundert sich heute mehr, sagte kurz vor seinem Tode Breton zu Buñuel. Man stelle sich einen Moment die Szene vor: zwei alte Surrealisten sitzen auf einer Pariser Caféterrasse und stecken traurig die Köpfe zusammen, das Leben macht keinen Spaß mehr.

Subida al Cielo ist eine einfache, sehr komische Geschichte, von Buñuel

1951 in seiner mexikanischen Wahlheimat gedreht, zunächst für die, die dort ins Kino gehen. Wie alle seine »kleinen mexikanischen Filme« – bei uns sind nur die großem zum Begriff geworden, Los Olvidados, Nazarin – hat er alle Züge vom populären Kino mit Gesangs- und Tanznummern, mit Dialogen, die zu Sprüchen und Volksweisheiten geschrumpft sind, mit deftigen, anzüglichen Witzen. Sein Erzählschema: was einem passieren kann, wenn man eine Reise tut – genauer: in einem öffentlichen Verkehrsmittel, einem Bus. Der wird für die Zeit der Handlung zur Bühne eines kleinen Welttheaters.

Der Film ist wie eine Parenthese, wie ein Klammersatz. Ein Umweg, der zu keinen neuen Zielen führt. Zu beginn macht sich ein Brautpaar auf den Weg zur Hochzeitsnacht. Den Segen der Brautmutter haben sie, was in jenen Gegenden Priester und Standesbeamten ersetzt. Das Gesetz des Vaters also spielt hier nicht die gewohnte Rolle. Die Mutter des Bräutigams liegt im Sterben und sie hat Besitz zu vererben. Dazu muss ein Rechtsanwalt her, der hinter den Bergen in der Stadt wohnt. Ihn zu holen, muss der junge Mann vorzeitig seine Hochzeitsnacht abbrechen, verschieben.

Auf dem Weg in die Stadt passiert alles nur Ausdenkbare. Pannen natürlich. Und es wird Tag und Nacht, die Sonne brütet und der Regen lässt die Flüsse anschwellen, ein Kind wird geboren, ein anderes stirbt, Geburtstag wird gefeiert, ein Wahlumzug organisiert, Tote werden zu Grabe geleitet. Bei allen Feierlichkeiten zischen Raketen hoch. Es geschieht ein Wunder von der Art, wie man sie aus der Milchstraße kennt, und der verhinderte Bräutigam schläft mit einem leichten Mädchen. (Erst nur im Traum: Dabei verwandelt sich der ärmliche Bus in einen üppigen Dschungel, wie in Bildergeschichte, in denen der Zeichner reale Linien verlängert, bis aus ihnen phantastische Gebilde werden.). Schließlich kommt er zurück zu seiner Braut. Die Mutter ist tot, die Erbschaftsangelegenheit weit davon, geregelt zu sein. Eng umschlungen schauen die liebenden vom Festland hinüber zu der kleinen Insel, auf der, so ist es Brauch, d.h. ungeschriebenes Gesetz, die Ehe zum ersten Mal zu vollziehen.

Worüber man sich wundern kann: Dass bei einer Geschichte, die wirklich nur das Gerippe einer Geschichte ist, reduziert aufs Allerbekannteste und von jeglicher individuellen Erfindung abstrahierend, ein Film herauskommt, den nicht nur Kenner nach wenigen Metren als einen Buñuel erkennen könnten. Was damit eng zusammengeht: In demselben Maß, in dem sich die Geschichte als absolut künstlich zu erkennen gibt, stellt sich eine Natürlichkeit ein, die mit der von nachahmender, realistischer Kunst nichts zu tun hat. Buñuel beschreibt zu Beginn sein Paradies, seinen Ort der Handlung knapp, als leite er einen Dokumentarfilm ein. Nur eine minimal Abweichung gestattet er sich. Erläuternd sagt er »wie«, macht Vergleiche. Die Einwohner leben von Kokospalmen, seine Kokospalme ist eine Milchkuh. Das ist wie der Bus, der sich in einen Dschungel verwandelt. Aufs Ganze des Films gesehen ist es wie eine Reise übers Gebirge, die an die Stelle der Reise zur Insel tritt. Buñuel verwendet Grundformen allen Erzählens. Er setzt die Vorstellung in Bewegung.

Das Wunder ist, dass Buñuel mit der simpelsten Geschichte ganz einfach Vorgänge beschreibt, denen man sonst so reduziert nur im Bereich der Theorie begegnet. Er karikiert mit seinem Film Erfindung. Er entkleidet den aufgeplusterten individuellen Schöpfungsmythos seiner falschen Federn. Mit dicken Strichen zieht er sein Schema nach, sodass die allgemeinen normen des Erzählens sich zu erkennen geben. Die notorische Diskussionsfrage, wo Elitekultur aufhört und Massenkultur anfängt, hebt sich wie von selbst auf.

Subida al Cielo, etwa »Tor zum Himmel«, ist im Film der Name eines Passes, Himmelsjoch, der den Höhepunkt der Reise markiert. Bis zu ihm steigt die Erzählung – der Bräutigam schläft mit dem Mädchen – , dann fällt sie fast symmetrisch wieder ab. Zwei Seiten einer Medaille. Oder auch ein Teppich, der auf seiner einen Seite ein klares, realistisches Motiv hat.

Buñuels Äußerung, er wolle mit seinen Filmen den Zuschauer einschläfern, ist so bekannt, dass man sich kaum traut, sie wieder anzuführen. Eine weniger bekannte Variante: Man solle sich vorstellen, jemand schließe im Bett mit einer brennenden Zigarette ein; sie könnte einfach ausgehen; sie könnte aber auch das Laken in Brand setzen und vielleicht sogar das ganze Haus. Nichts für Nichtraucher.

 

Subida al cielo (Der Weg, der zum himmel führt). Mexiko 1952. Produktion: Isla. Regie: Luise Buñuel. Buch: Manuel Altolaguirre, Juan de la Cabada, Luise Buñuel, nach einer Geschichte von Manuel Altolaguirre. Kamera: Alex Phillips. Musik: Gutavo Pittaluga. Darsteller: Lilia Prado, Esteban Márquez, Carmelita Gonzáles.

Aus: Süddeutsche Zeitung, 28. Jahrgang, Nr. 17, 22. / 23.1.1972

 

 

Der Text ist der folgenden Publikation entnommen:

Frieda Grafe. Ausgewählte Schriften in 12 Bänden. Herausgegeben

von Enno Patalas. Band 9: Film für Film, Seite 130 – 132.

Brinkmann & Bose Verlag, Berlin (2006).

 

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Verlags.