Münchner Filmzentrum
FRIEDA GRAFE

[ Foto: Courtesy Brinkmann & Bose, Berlin ]

 

Eine Klasse für sich – die Filmkritikerin Frieda Grafe (1934 – 2002)

Frieda Grafe brachte eine neue Art, Filme zu sehen und darüber zu
schreiben, in die Welt. Nicht ganz unschuldig daran war Paris, wo sie
während ihres Studiums der Germanistik, Romanistik und Philosophie ein
Auslandssemester verbrachte. An der Sorbonne kam sie in Kontakt mit den
«Cahiers du Cinéma» und den Schriften der  Strukturalisten wie z.B. Roland
Barthes
und Julia Kristeva. Deren Denkweise, Ereignisse und Phänomene
zu analysieren, sollte ihre Sicht auf Film von Grund auf verändern.

Statt Filme zu bewerten, konzentrierte Grafe sich in ihren Texten darauf,
mit allen Sinnen zu analysieren und zu beschreiben, was sie zu sehen
bekam. Dabei entwickelte sie einen eleganten Schreibstil, der gleichzeitig
intellektuell wie assoziativ, zuweilen fast schon montageartig war – oft mit
einer Prise spielerischer Leichtigkeit und subtilem Humor. Das Besondere
war, wie sie den Film mit all seinen ästhetischen Dimensionen in Verbin-
dung brachte mit anderen Künsten – und ihm dadurch ein weites Feld er-
schloss. So fanden nicht nur Gedanken aus Literatur, Linguistik und Philo-
sophie Eingang in ihre Texte, sondern auch Anregungen aus Malerei, Photo-
graphie, Architektur, Musik oder Mode. Darüber hinaus fand der Geist der
Zeit nicht zuletzt durch feministische Perspektiven Eingang in ihr Schreiben.

In ihren Texten spann sie faszinierende Netze aus erleuchtenden Assoziatio-
nen und – zum Teil verfblüffenden – Zusammenhängen. Dabei legte sie
immer wieder auch Spuren zu weiter führenden Gedankenketten – über-
raschende Gedankensprünge nicht ausgeschlossen! Die Filmgeschichte
als Rahmung hatte sie dabei immer mit im Blick.

Bei der Suche nach dem „eigentlichen“ Kern des Kinos – das, was es von
allen anderen Künsten unterschied, war die Analyse von Strukturen sowie
der filmspezifischen ästhetischen Mittel ihr Leitfaden. Dem legendären
Filmkritiker und geistigen Vater der Nouvelle Vague André Bazin (1918 –
1958) hatte sie einmal attestiert, das Kino „zu schützen vor der Redu-
zierung auf Aussagen, seine Eigenart zu begreifen, wozu es einen Sach-
verstand braucht, um seine Art zu denken in der formalen Intelligenz
der Inszenierung zu erkennen“ (zitiert nach: steadycam 45/2003, S.126).

Dasselbe könnte man auch von ihren Texten sagen. 1983 schrieb sie:

„Die Dinge haben ihre eigene Logik nach der Erfindung der Kameras.
Die Optik hat das beschreibende Subjekt verdrängt. […] Das Visuelle ist
selbstständig. Die neue Sprache ist so konkret, weil sie nur noch den
Augenblick zu treffen sucht, nicht abbildet, nicht darstellt.“
(zitiert nach: steadycam 45 / 2003, S. 125 / 126)

Dass sie der Sprache als Ausdrucksmittel für ihre Wahrnehmungen
mißtraute, bedeutete einen grundlegenden Perspektivwechsel in der
Art und Weise, wie ab den 1960er Jahren auch in Deutschland über Film
geschrieben wurde. Dementsprechend stand auch die Frage nach den
Aufgaben sowie dem Selbstverständnis der Filmkritik als Zunft auf dem
Prüfstand. Es entbrannten heftige Debatten, gerade auch unter den Film-
kritikern selbst. Der Diskurs lässt sich u.a. in der deutschen Zeitschrift
«Filmkritik» nachlesen, die 1957 von ihrem Ehemann Enno Patalas mit-
gegründet worden war und seinerzeit eine Filmkritik im Geiste der sozio-
logischen Theorien der Frankfurter Schule rund um Max Horkheimer
und Theodor Adorno betrieb.

Grafe veröffentlichte ihre ersten Filmtexte ab 1962 in der Zeitschrift
«Filmkritik». Sie verstand sich von Anfang an als Fürsprecherin der
Nouvelle Vague in Deutschland – nicht zuletzt, weil die Filme dieser
jungen Franzosen in vielerlei Hinsicht deutlich machten, dass die bis
dahin vorherrschende Art der Filmkritik nicht mehr dazu taugte, die
neusten Strömungen in der Filmkunst adäquat zu erfassen. Anstatt
mit einem vorformulierten Gedankengerüst an einen Film heranzutreten
(wie z.B. die ideologiekritische Filmkritik), beschrieb und argumentierte
Grafe jeweils aus dem Film selbst heraus, indem sie die spezifischen
Gestaltungsmittel des Mediums ernst nahm. Der damals dominierenden
Methode der sprachlichen Analyse stellte sie ihre intuitiv-assoziative,
sinnlich-analytische Herangehensweise entgegen.




Im Kino des Münchner Filmmuseums erinnern 2 Ehrenplätze mit Namensschildern
(am linken Ende der 5. Sitzreihe) an Frieda Grafe und Enno Patalas, ihren Ehemann
und „cineastischen Komplizen“, der von 1973 – 1994 Leiter dieser Institution war.

[ Foto: Idún Zillmann ]


Dabei legte sie ganz neue Einblicke in die Filmkunst frei, die u.a. deutlich
machten, dass der Film als eigenständiges Medium zu gelten habe, das
seine Besonderheiten, seine Stärken – aber auch: so manche Brisanz –
gerade daraus bezog, dass es Gedanken und Phänomene ausdrücken
konnte, die der – zumeist wohlgeordneten – Welt unserer Sprache nicht
zugänglich sind. Ihre Texte zeugten nicht nur von höchstem Intellekt
und Weitblick, sondern auch von Witz, Ironie und einem ausgeprägten
Stilbewusstsein.

Mit ihrer Art, über Film zu denken und zu schreiben, inspirierte sie eine
ganze Generation nachfolgender Filmkritiker nachhaltig – unter anderem
auch den Münchner Filmkritiker Michael Althen (SZ, Zeit, FAZ). In einem
Nachruf schrieb er über Grafes Filmtips: „[…] das waren keine Empfeh-
lungen, noch nicht einmal Charakterisierungen, sondern buchstäblich
Denkanstöße, wohlmeinende Einladungen, eine andere Perspektive zu
wagen, sich nicht auf den ersten Blick zu verlassen. Wir saßen über
diesen Botschaften vom anderen Stern als wären es Haikus.“
(zitiert nach: steadycam 45 / 2003, S. 124)

Grafe selbst beschrieb ihre Herangehensweise bei einem Vortrag
im legendären Berliner Arsenal Kino 1989 so:

„Ich versuche, aus meinen Eindrücken und Einsichten die generelle Farbe
eines Films für den Leser zu rekonstruieren, um ihn zu veranlassen, selbst
zu Schlüssen oder Annahmen zu kommen.“ (zitiert nach: Frieda Grafe (2006): Film für Film, S. 17)

Dabei war es ihr Grundsatz, sich den zu besprechenden Film mindestens
noch ein zweites Mal anzuschauen.

Außer in der «Filmkritik» (bis 1972) veröffentlichte Grafe ab 1968 auch in
der «Zeit» und dann vor allem in der «Süddeutschen Zeitung». Außerdem
gestaltete sie Fernseh- und Radiosendungen und übersetzte u.a. auch Film-
bücher, darunter auch den populären Klassiker «Mr. Hitchcock, wie haben
Sie das gemacht?»
von Francois Truffaut (zusammen mit Enno Patalas).
Bis heute gehört Frieda Grafe (1934 – 2002) zu den angesehensten Film-
kritikerinnen Deutschlands, die von vielen Kolleg*innen als unerreichtes
Vorbild genannt wird. Sehr wahrscheinlich hält sie auch den Rekord für
den kürzesten Filmtext aller Zeiten: Für ihren „Filmtip“ zum Stummfilm-
Klassiker Panzerkreuzer Potemkin (Eisenstein, UdSSR 1925) genügte ihr
ein einziges Wort: „Montagekino.“ (Frieda Grafe: Ins Kino! Ausgewählte
Schriften. Band 11, S. 204) – dem ist nichts hinzu zu fügen.

Der Hanser-Verlag verlieh Frieda Grafe einmal einen Preis für Filmessay-
istik. Dass sie die erste und einzige Preisträgerin war, sagt vermutlich
ähnlich viel aus über ihre Qualität als Filmkritikerin wie über den Stand
der Filmkritik in unserer heutigen Gesellschaft, die schon längst von ihrer
ubiquitären Medienlandschaft überfordert ist und kaum noch Zeit zur
(Selbst-)Reflexion findet. Auch deswegen ist die Lücke, die Grafes
fehlende Stimme hinterlassen hat, heute besonders deutlich spürbar.

Mit ihrem Mann Enno Patalas verband Frieda Grafe eine außergewöhnliche,
fast schon symbiotische Lebens- und Arbeitsgemeinschaft. Beide haben
immer wieder betont, wie sehr die Ergebnisse ihrer jeweiligen Arbeiten auf
den gemeinsamen Filmerlebnissen und Gesprächen beruhen.

Im Rahmen der Frieda-Grafe-Filmreihe, die im Filmmuseum (9.3.)
sowie im Werkstattkino (10. – 15. März) stattfindet, möchten wir dem
wegweisenden Schaffen dieser einzigartigen Münchner Filmkritikerin auch
auf dieser Plattform Raum geben, indem wir einige ausgewählte Texte
von ihr präsentieren:



[ 1. ]   Zum Selbstverständnis der Filmkritik (1966)

[ 2. ]   Die Nouvelle Vague im Jahr 2000 (Aufsatz)

[ 3. ]   Zu Marlene Dietrichs 100. Geburtstag  (2001)


[ 4. ]  Ausgewählte Bücher  von / zu Frieda Grafe


»Der Realismus, den das Kino durchgesetzt hat, ist so verführerisch objektiv. Wie leicht vergißt man, daß er 
für uns aus einem Ausschnitt die ganze Welt macht.« 

(Frieda Grafe zu La femme de l'aviateur von Eric Rohmer, 
zitiert nach Steadycam Nr. 45 / Frühjahr 2003, S. 126)

 

[ Text: Idún Zillmann ]